Drohende Stigmatisierung

Affenpocken, voll schwul ey

Das Affenpocken-Virus breitet sich gerade beim Menschen aus, aber zum Glück haben sie beim RTL-Mittagsmagazin „Punkt 12“ jemanden, mit dem man schnell mal darüber reden kann: Dr. Christoph Specht, „Deutschlands meistgefragter TV-Doktor“ (Eigendarstellung) und „der Arzt und Medizinjournalist, dem Redaktionen und Zuschauer gleichermaßen vertrauen“ (ja, wirklich.)

Dr. Christoph Specht
Doktor (Eigenschreibweise) Christoph Specht Screenshot: RTL

„Für die Allgemeinheit“ sei das Risiko einer Ansteckung „noch gering“, referiert Moderatorin Katja Burkard also am Montag, „aber da tun sich natürlich noch immer ganz viele Fragen auf, und da hören wir nochmal nach bei unserem Medizinexperten Dr. Christoph Specht. Hallo Herr Dr. Specht.“

„Hallo Katja.“

Die Bauchbinde nennt ihn „Arzt und Medizinjournalist“; er selbst sagt von sich, er hebe sich im Medien-Dschungel „wohltuend mit seinen unabhängigen und immer gut verständlichen Informationen ab“. Auf seiner Website erfährt man weiterhin, dass Specht offenbar vor allem TV-Arzt ist:

Dr. Specht ist vollapprobierter Arzt, jedoch nicht in die ärztliche Versorgung der Allgemeinheit eingebunden und nicht niedergelassen. Er bietet keine ärztlichen Leistungen an.

Trotzdem (oder gerade deswegen) sei er stets verfügbar für TV-Interviews:

Eine seiner besonderen Stärken – die Aktualität: Als Medizin-Korrespondent ordnet Doktor Specht die medizinischen Hintergründe aktueller Ereignisse ein.

„Punkt 12“ stellt ihm deshalb zunächst die „ganz bange Frage: Müssen wir uns jetzt auf eine Welle des Affenpockenvirus einstellen“? Und abschließend:

 

„Und wir hören ja die ganze Zeit, es sei nicht so gefährlich, aber gibt’s nicht auch Gruppen, die vielleicht doch mehr betroffen sind als andere, wenn sie sich infizieren?“

Der Experte für offenbar alles, Dr. Christoph Specht, antwortet:

„Also, man hört ja doch eindeutig, dass sehr viele, wenn sie sich infizieren, sich im homosexuellen Milieu angesteckt haben. Das trifft dann zu, wenn eben sehr viele verschiedene Sexualkontakte in kurzer Zeit erfolgen, ganz klar, hier ist ein enger Hautkontakt notwendig, der ist da natürlich gegeben und Menschen, die immungeschwächt sind, haben hier ein größeres Problem, übrigens noch ein Unterschied zu Corona.“

Die Faktenlage

Homosexuelle Milieus? Sehr viele verschiedene Sexualkontakte? Droht da etwa schon wieder eine „Schwulenpest“? Dazu kommen wir gleich, erst einmal die Fakten.

Das Robert Koch-Institut (RKI) teilt uns auf Anfrage mit:

In Deutschland sind dem RKI aktuell 5 Fälle übermittelt, alle bei Männern, als Übertragungswege werden von den Gesundheitsämtern für diese Fälle Sexualkontakte angegeben. Die Fälle sind aus Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Sachsen-Anhalt übermittelt worden.

Das RKI verweist auf eine am Montag veröffentlichte Risikobewertung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten zum Affenpocken-Ausbruch. Dort heißt es:

Affenpocken verbreiten sich nicht leicht zwischen Menschen. Die Übertragung von Mensch zu Mensch erfolgt durch engen Kontakt mit infektiösem Material aus Hautläsionen einer infizierten Person, durch Atemtröpfchen bei längerem direkten Kontakt und durch Infektionsträger. Das Vorherrschen von diagnostizierten menschlichen Affenpocken-Fällen bei dem aktuellen Ausbruch bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), und die Art der Läsionen in einigen Fällen, legen nahe, dass die Übertragung während des Geschlechtsverkehrs erfolgte. (…)

Das Gesamtrisiko wird für Personen mit mehreren Sexualpartnern (einschließlich einiger MSM-Gruppen) als moderat und für die breitere Bevölkerung als gering eingeschätzt.

(Übersetzung von uns)

Kritik am RKI

Bei einer Pressekonferenz von RKI-Chef Lothar Wieler und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hieß es, dass nach dem bisherigen Infektionsgeschehen in Deutschland sowie weltweit (177 Fälle in 16 Ländern) vor allem Männer, die ungeschützten Sex mit anderen Männern gehabt haben, von der Erkrankung betroffen seien. Beide gaben sich bei heute sichtlich Mühe zu betonen, dass dies nicht zu einer Stigmatisierung führen dürfe.

Es gibt einen Unterschied zwischen der aktuellen Ausbreitung und dem grundsätzlichen Risiko der Erkrankung mit den Affenpocken. Derzeit seien zwar vor allem homosexuelle Männer oder, allgemeiner: Männer, die mit Männern Sex haben (MSM), erkrankt. Das sage aber nicht grundsätzlich etwas über eine höhere Wahrscheinlichkeit dieser Gruppe, sich mit Affenpocken zu infizieren. „Das kann auch ganz andere Gruppen in Zukunft betreffen“, sagte Lauterbach. Auch Wieler wiederholte, das Virus könne unabhängig von der sexuellen Orientierung, von Alter und Geschlecht „von jedem übertragen werden“. Derzeit müssten aber vor allem „diejenigen, die unter Risiko stehen, informiert werden“ – MSM.

Dass Lauterbach und Wieler so viel Wert auf diese Feststellung legten, dürfte an den Vorwürfen liegen, mit denen sich das RKI in den vergangenen Tagen auseinandersetzen musste: Man habe mit einer Veröffentlichung zur Stigmatisierung beigetragen,
hieß es etwa im „Tagesspiegel“:

Das entsprechende RKI-Bulletin zu „Affenpocken“ enthält neben Empfehlungen an Ärztinnen und Ärzte, welche Menschen bei „differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden sollten“, nur einen Satz, der sich direkt an eine Personengruppe wendet: Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) „mit ungewöhnlichen Hautveränderungen sollten unverzüglich eine medizinische Versorgung aufsuchen.“ Warum anderen Menschen, etwa heterosexuellen Frauen und Männern oder lesbischen Frauen, die solche Veränderungen an sich beobachten, solch ein Rat nicht gegeben wird, bleibt auch nach mehrmaligem Nachfragen beim RKI unklar.

Es sei keine Überraschung, dass bei dieser Art der Warnung ein Satz wie „Affenpocken in Europa – Warnung an homo- und bisexuelle Männer“ zur Überschrift vieler Artikel würde. Die Botschaft, die so verkürzt ankäme, wäre „Affenpocken kriegen nur schwule und bisexuelle Männer“.

Weiter heißt es im „Tagesspiegel“-Kommentar von Ingo Bach:

Das ist übrigens nicht weit entfernt von der „Schwulenseuche“, als die Aids Mitte der 1980er in die Schlagzeilen kam.

Stigmatisierende Überschriften

Markus Ulrich, Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes LSVD, sagte dem ZDF, Panikmache und Stigmatisierungen müssten unbedingt vermieden werden:

Viele schwule Männer nehmen die jetzige Kommunikation des Gesundheitsministeriums und Robert-Koch-Instituts sowie die Diskussion in der Öffentlichkeit jedoch genauso wahr. (…) RKI und das BMG sollten ihre Kommunikation kritisch überprüfen. Verkürzte und stigmatisierende Statements und Überschriften helfen niemandem.

Aidshilfe-Sprecher Holger Wicht sagte der Deutschen Presse-Agentur:

Natürlich gibt es bei den Affenpocken oberflächliche Ähnlichkeiten zu HIV damals – es ist wieder eine Erkrankung aus Afrika, die auch schwule Männer betrifft. Aber in vielen anderen Punkten passt der Vergleich nicht.

Leider zeichnet sich ein Teil der Menschheit durch unverbesserliche Dummheit aus. Und das ist noch das mildeste Urteil, das ich angesichts der hier exemplarisch angeführten, vom Klimaaktivisten Tadzio Müller gesammelten homophoben Anwürfe in Erwägung ziehen möchte.

Dass die (vermutlich unbeabsichtigte) Steilvorlage des RKI von homophoben Trollen in sozialen Netzwerken missbraucht würde und eine Stigmatisierung befeuere, scheint auch angesichts von Posts wie den folgenden evident:

Schwule verbreiten Krankheiten wie #Affenpocken und wundern sich dann wenn sie kein Blut spenden dürfen.

Wenn die Affenpocken nicht über die Luft ansteckend sind? Warum muss man dann isoliert werden? Reicht Nicht ein Vögelverbot? Nach Aussage Lauterbach nur für Schwule?? Oder dürfen die in der Isolation….?! Ach was soll’s. Kann ja jeder machen was er will🐒

Im Milieu-Milieu

Umso ärgerlicher, dass RTL in „Punkt 12“ seinen Doktor Specht auch noch vom „homosexuellen Milieu“ und den „sehr vielen verschiedenen Sexualkontakten“ sprechen ließ, ohne das zumindest zurechtzurücken. Die Formulierung vom „homosexuellen Milieu“ wird schon seit vielen Jahren kritisiert, unter anderem vom Bund Lesbischer und Schwuler JournalistInnen:

„Dieser Terminus ist sprachlicher Unsinn. Was oder wo soll dieses Milieu denn sein: die Stadt Köln, der Eurovision Song Contest oder gar das Amtszimmer einer lesbischen Politikerin? Solche Phrasen verunglimpfen Homosexuelle kollektiv, ganz so, als wären Lesben und Schwule wie Kriminelle in einer Art Rotlichtviertel organisiert. Kaum jemand würde über eine ‚Gewalttat im Lehrermilieu‘ oder einen ‚Doppelmord im Hetero-Milieu‘ berichten. Dass ‚Milieu‘ auch ein soziologischer Begriff ist, wissen wir. Doch Autoren wollen mit reißerischen Schlagzeilen dieser Art wohl kaum eine soziologische Präzision zum Ausdruck bringen. Zudem ist es gerade ein Ergebnis dieser Studien, dass Homosexuelle in jedem Milieu vorkommen.“

Auf Übermedien-Anfrage rechtfertigt sich eine RTL-Sprecherin:

„Eine Stigmatisierung liegt uns selbstverständlich fern. Dass sich nach bisherigen Erkenntnissen in erster Linie Männer infizierten, die sexuelle Kontakte mit anderen Männern hatten, wird unter anderem von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sowie von mehreren namhaften Virologen thematisiert. Es gelte, die Risikogruppen ehrlich anzusprechen. Das sei zu ihrem Schutze und dürfe nicht falsch als Stigmatisierung verstanden werden. Daran hat sich auch die Redaktion orientiert.“

Auf nochmalige Nachfrage verspricht der Sender immerhin:

Wir nehmen das gerne zum Anlass, alle Beteiligten nochmals dahingehend zu sensibilisieren.

Unser inhaltsleerer Dr. Specht

Der „Medizinkorrespondent“ Specht ist immer wieder bei RTL zu sehen, um die großen Medizin-Themen aktuell – wir erinnern uns: seine große Stärke – irgendwie einzuordnen. Da ist es egal, ob es um virologische Themen geht, etwa zu PCR-Tests, Corona-Impfungen ab 12 Jahren („Dr. Specht, was sollten Eltern jetzt tun?“) oder ein vor einem Haus erforenes Kleinkind („Das Kind hatte keine Chance“). Er lässt sich auch bereitwillig zu Ferndiagnosen „Annahmen“ verleiten. Über die Aphasie-Erkrankung des Schauspielers Bruce Willis sagte Specht RTL im April:

„[…] so wie die Meldung formuliert ist, habe ich da keine Erwartungen, dass da mit einer Heilung, auch gar nicht mit einer Besserung zu rechnen ist. Es gibt Aphasieformen, die sind eben dauerhaft und um eine solche scheint es sich hier leider zu handeln.“

Was deshalb so absurd ist, weil er unmittelbar vorher erklärte:

„Von der Entfernung ist es natürlich unmöglich, etwas über die Prognose zu sagen.“

Am Dienstag war Specht beim ZDF-Vormittagsmagazin „Volle Kanne“ zu Gast. Als Specht von homosexuellen Männern anfängt, die „promiskuitiv vermutlich gelebt haben, das kann man nur vermuten“, spricht Moderatorin Nadine Krüger ihn unter Verweis auf die Aidsstiftung auf das Thema Stigmatisierung „von Schwulen oder einer gewissen Szene“ an. Specht rudert zurück: „Richtig, das hätte auch wo ganz anders sein können“. Promiskuitiv heiße ja „viele wechselnde Sexualpartner in relativ kurzer Zeit – das können natürlich auch Heterosexuelle sein. Nur in dem Fall war es eben so und das erklärt vermutlich diesen Zusammenhang“.

So hätte man mit Specht bei RTL auch umgehen können, wenn man ihn denn schon einlädt.

7 Kommentare

  1. Leider war ZDF „Volle Kanne“ doch nicht besser. Im Einspieler vor dem Gespräch mit Doktore Specht wurde durch den Off-Sprecher gesagt „… und tatsächlich trifft es v.a. Menschen mit vielen wechselnden Sexualkontakten und homosexuelle Männer.“ (ab Minute 5:30 der Sendung https://www.zdf.de/gesellschaft/volle-kanne/volle-kanne—mit-caro-cult-vom-24-mai-2022-100.html). Das ist natürlich auch ein schöner Aufhänger für das folgende Interview. In einem Einspieler kann man das auch nicht mehr als versehentlich oder Versprecher abtun.

  2. Ich kann mich bei der laufenden Berichterstattung (bzgl. Affenpocken) des Eindrucks nicht erwehren, dass es vielen Leuten gerade recht kommt. Das veraltete Weltbild wird plötzlich doch wieder bedient. Nach dem Motto: „Ich hab`s ja immer gewusst, die ekelhaften Schwulen, in ihrem perversen Schwulenmilieu. Immer nur am rumhuren. Klar kommt da wieder so ne Krankheit dabei raus.“

    Offiziell wird Homo-Feindlichkeit zwar an den Pranger gestellt, aber in solchen Situationen merkt man, wie weit verbreitet diese Vorstellungen noch sind.

    Umso schlimmer von RTL diesen Humbug noch mit „Ärztlicher Expertise“ untermauern.

    Es ist wohl immer noch ein unglaublich langer und steiniger Weg, bis diese Vorurteile endlich aus unserer Gesellschaft verschwinden.

  3. Na, wie diese Vorurteile entstehen beschreibt der Text ja sehr gut, allerdings ohne es explizit zu nennen.

    Die Kausalkette ist ja lt. RKI: Übertragung u. a. durch Hautläsionen –> Hautläsionen bei Analverkehr wahrscheinlicher („(…)die Art der Läsionen in einigen Fällen, legen nahe, dass die Übertragung während des Geschlechtsverkehrs erfolgte.“) –> Analverkehr bei Homosexuellen Männern überrepräsentiert (implizit) –> Homosexuelle haben erhöhtes Risiko.

    Wenn man das einfach so kommunizieren würde …
    Stattdessen wird immer am Ende der Kette angesetzt und die Infektionswahrscheinlichkeit in direkte Korrelation zur Homosexualität gesetzt, obwohl es halt eine indirekte ist, da das Ausleben von sexuellen Gelüsten, die Hautläsionen verursachen können sicherlich nicht auf Homosexuelle beschränkt ist.

    An der Stelle kommen dann die Trolle, die ein Vögelverbot für Homosexuelle fordern, aber das Tragen einer dünnen Stoffmaske zum Gesundheitsschutz als Eingriff in die Grundrechte hochjazzen. Projektion halt.

  4. Zur Übertragungsart reicht es ja vollkommen zu sagen: „u.a. intensiver langer Kontakt und infektiöses Material aus Hautläsionen.“

    Jegliche Bezüge zur Homosexualität oä sind überflüssig.

    Die gefährdete Personengruppe weiß durch diese Beschreibung ja dass sie gefährdet sind. Und andere Menschen wissen, ich kann den scheiß auch bekommen wenn ich ungeschützt viel Spaß hab. Und wir haben nicht (meiner Meinung nach) sehr viele Menschen, deren erster Gedanke, wenn jemand die Affenpocken bekommt, ist, irgendwas mit Homosexuell.

  5. @3
    Es kommt auch noch ein rein statistischer Effekt dazu:
    Wenn die Übertragung hauptsächlich durch Geschlechtsverkehr geschieht und zufällig die ersten Wirte homosexuell sind und diese natürlicherweise vor allem mit anderen Homosexuellen GV haben, tritt es vorerst in dieser Gruppe statistisch gehäuft auf.
    Das Phänomen ist symmetrisch, aber wir haben eine verzerrte Wahrnehmung, denn in zig anderen Fällen treten ähnlich übertragbare Krankheiten aus demselben Grund überproportional bei Heterosexuellen auf. Das ist dann nur niemandem eine Meldung wert, weil es nicht auffällt.

  6. Zu#6

    Nicht wirklich da das Virus auch über Körperflüssigkeiten übertragen wird.

    Das RKI beschreibt sehr gut das „wie, wo, was“ auf ihrer Seite.

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