Amoklauf in Heidelberg

Den Schuss nicht gehört

In Heidelberg ist gestern ein Mann in einen Hörsaal der Universität eingedrungen und hat eine Person getötet und drei verletzt; anschließend soll er Suizid begangen haben. Wie immer bei solchen Ereignissen – ob Amoklauf oder Terroranschlag – waren private Nachrichtensender auch an diesem Tag sofort live auf Sendung. Und dieses Mal mischte auch das ZDF mit, das eilig ein „heute live“ sendete. Es war quasi privates Spekulationsfernsehen.

Nichts Genaues weiß man nicht. Screenshot: ZDF

Die Sendung begann mit einer Schalte zu einem Reporter in Heidelberg, der einen Polizeisprecher befragte. Der konnte zu den meisten Fragen allerdings noch keine oder nur knappe Antworten geben, die Tat war ja eben erst geschehen: Infos über die „Hintergründe“ des Täters? Völlig unklar. Waren es mehrere Täter? Ausgeschlossen. Wie war das mit dem Notruf? Kann man noch keine Angaben machen. Hat man den Täter schnell gefunden? Ja.

Und natürlich:

„Weiß man denn schon was, was sich genau abgespielt hat? Ist der Mann hinein in den Hörsaal und hat sofort gezielt oder wild um sich geschossen?“

Woraufhin, Sie ahnen es, der Polizeisprecher sagte:

„Über den genauen Ablauf der Tat können wir aktuell keine Angaben machen.“

Das sei das, was man im Moment aus Heidelberg erzählen könne, sagte der Reporter nach dem kurzen Interview, und eigentlich wäre die Sendung hier, nach dreieinhalb Minuten, zu Ende gewesen.

Aber beim ZDF hatten sie noch Bock.

„Tja“

„Wir könnten jetzt natürlich noch ein bisschen weitermachen…“, sagte der Moderator zum Reporter. Er meinte aber nicht könnten, Konjunktiv, sondern: Wir werden jetzt hier weitermachen. Warum, weiß nur der Programmchef.

Wir könnten uns zum Beispiel „untereinander noch mal fragen“, so der Moderator, wie der Täter denn gleich an mehrere Gewehre gekommen sei, und ob es da schon „irgendwelche“, jawohl: „Mutmaßungen“ gebe.

„Mehrere Gewehre scheint in den Bereich der Gerüchteküche zu laufen“, erklärte der Reporter. Ein Gewehr, ja, aber woher: unklar. Mehr könne man da jetzt noch nicht sagen. „Tja“, sagte der Moderator. Er klang enttäuscht und, „das kann ich gerade vielleicht mal hier vortragen“, trug dann lesend vor, was unter „Langwaffe“ in der Wikipedia steht. Fazit: „Auf gut deutsch: Es ist ein Gewehr“. Aber dazu konnte man ja noch nicht mehr sagen, also fragte der Moderator, wo in Heidelberg das noch mal war. Antwort: an der Universität.

Dann las er eine Frage eines Zuschauers vor, wie viele verletzt seien. Vier offenbar. Wie schwer verletzt? Ungewiss. Die Polizei sage das ja auch deshalb nicht, sagte der Reporter, um Angehörige der Opfer erst mal zu informieren, aber nicht über Medien. Also las der Moderator mal noch einen Tweet der Polizei vor und bohrte weiter:

„Ist da sowas wie, ja, ich weiß es nicht, also, ist da jetzt eine bedrückende Stille zu spüren?“

Reporter: Ist alles abgesperrt, überall Polizei. Überraschend. „Hier auf dem Gelände ist natürlich, wenn man so will… rege Beschäftigung von Kamerateams, von Fotografen.“ Aber, erklärte der Reporter abermals, es gebe halt derzeit keine weiteren Infos. Diese Sendung hatte so viele natürlich Enden, doch sie endete einfach nicht.

„Weinend, oder irgendwie“

Denn der Moderator wollte unbedingt noch ein paar emotionale Bilder haben, wenigstens als Erzählung:

„Auf der anderen Seite hast du jetzt auch noch keine Studenten gesehen oder Studentinnen, die da sitzen, weinend, oder irgendwie, äh, nach Fassung ringend, äh, oder vielleicht irgendwie… also, das ist… ich versuch gerade einfach nur ein bisschen die Atmosphäre vor Ort zu erfragen.“

Ein Versuch, ja. Ein hilfloser.

Die Leute, die der Reporter gesehen hatte, „die eilen hier an diesem Medienaufgebot vorbei, die wollen eigentlich auch keine Auskünfte geben“. Tja. Womöglich machten sie einfach alles richtig. Sie gingen nicht dorthin, wo sie doofe Fragen gestellt bekommen hätten, sondern zu Seelsorgern, gleich hinter dem Reporter.

Insgesamt zwölf Minuten dauerte die Sendung. Gegen Ende wirkte der Moderator, als wäre er jetzt gerne irgendwo, zu Hause zum Beispiel, aber nicht in diesem Studio, wo er sinnlos Strecke machen musste und Fragen stellen zu etwas, zu dem es zu diesem Zeitpunkt kaum Antworten gab.

Es war eine größtenteils unnötige Sendung, und sie hätte nicht überrascht, wenn sie in irgendeinem privaten Nachrichtensender gelaufen wäre.

Die Augenzeugin, die nichts sah

Bei „Welt“, zum Beispiel, hatten sie kurz nach der Tat eine Ärztin zugeschaltet, die als „Augenzeugin“ angekündigt wurde, was sie aber gleich korrigierte. Sie hatte nämlich nichts gesehen und auch keinen Schuss gehört. Sie war nicht mal in der Nähe des Tatorts. Das erklärte sie ganz souverän. Trotzdem versuchte der „Welt“-Moderator Minuten lang irgendwas aus ihr rauszupressen.

Anschließend schaltete „Welt“ zu ihrem Reporter nach, Moment, ach ja: Frankfurt am Main. Um mal zu fragen, wie so die Lage in Heidelberg sei.

Wie gesagt: Das ist quasi normal. Diese Eile, schnell irgendwas zu berichten, zu spekulieren, gehört zur DNA dieser Sender; wie oft gab es das schon. Sie lernen einfach nicht dazu. Wenn man sowas öfter gesehen hat, könnte man ein bisschen abstumpfen. Das macht es aber nicht weniger ärgerlich und unnötig.

Dass nun auch ZDF meint, es gehöre zu seinem Informationsauftrag, so informationsfrei und sensationslüstern über eine Tat wie die in Heidelberg zu berichten, ist neu. Und weil es das öffentlich-rechtliche ZDF ist, eine Marke wie „heute“, ist es doppelt ärgerlich und unnötig.

4 Kommentare

  1. Ich weiß noch, dass ich froh darüber war, wie beide Redaktionen, ARD-Tagesschau und ZDF-Heute, bei den Terroranschlägen in Paris 2015 sachlich und hintergründig, aber nicht heischend berichtet haben, im Gegensatz zu den Blaulichtdauerschleifen und Spekulationsblasen nebenan bei n-tv und, noch extremer, N24.

    Beim Brand der Notre-Dame-Kathedrale 2019 haben ARD&ZDF ebenfalls einen sehr guten Job gemacht und das berichtet, was es zu berichten gab, und dies nicht mit Spekulationen ewig ausgewälzt oder in repetitive Dauerschleifen geschoben. Die Kritik, die diese Form der höchst öffentlich-rechtlichen Berichterstattung in der Politik damals ausgelöst hat, habe ich deswegen nicht verstanden.

    Gestern habe ich tagsüber keine Nachrichten verfolgt, aber dieser Ausschnitt aus dem ZDF toppt nochmal, wie RTL über den Amoklauf von Winnenden 2009 berichtet hat. Nur: damals hat sich RTL selbst von seiner Art der Berichterstattung distanziert und die Reporterin damit entschuldigt, dass diese noch in der Ausbildung gewesen sei.

    Die Art und Weise, wie hier der Moderator im Studio von sich aus wilde Fantasien über schreiende Studenten von sich gibt, ließ mich an diese Satire des Onion (Satiremagazin aus den USA) denken. (The Onion hat eine Zeitlang auf seinem Youtube-Kanal professionell gemacht Parodien, teilweise sehr schwarzhumorige Fantasien der US-Nachrichtenlandschaft gemacht, wozu dieses Video gehört).

    Ich hoffe, dass die ZDF-Chefredaktion mitsamt der Heute-Redaktion diese Sendung als Negativbeispiel studiert, wie sie bitte nie wieder eine „Nachrichtensendung“ machen.

  2. Was mich noch medial störte an dem Fall, war, dass im Nachgang wörtliche Zitate aus dem Brief/Manifest des Täters veröffentlicht wurden. Warum nur gibt man dem eine Bühne?

  3. Vollkommen unterirdisch – bei solchen Beispielen fragt man sich zurecht, wie schlecht mittlerweile der ÖRR geworden ist und warum es offfensichtlich da keine Instanz gibt, die eine Qualitätssicherung der Berichterstattung vornimmt oder vorab einen „Riegel“ vorschiebt. Mir ist aber noch was anderes aufgefallen: In der 20 Uhr Tagesschau wurde über den Anschlag sehr weit hinten berichtet, erst nachdem erneut – was vorher schon über viele Kanäle lief – auf das Outing in der katholischen Kirche berichtet wurde inkl. Werbung für die spätere Reportage dazu. Das hat mich dann noch mehr gewundert, warum den verkappten Programmhinweis der Aktualität vorzieht.

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