Ferndiagnose: Dystopie

Die falschen Abgesänge auf Neuseelands Anti-Corona-Strategie

Neuseelands Lockdown begann für mich mit Zimmerservice. Ins Erdgeschoss des Sudima in Christchurch kam zwar weder Sonne noch Frischluft, aber es waren erträgliche zwei Wochen Zwangsquarantäne nach einer überstürzten Deutschlandreise. Ich saß in einem Vier-Sterne-Hotel.

Dort hatte ich viel Zeit, die täglichen Pressekonferenzen der Regierung live zu verfolgen. Am 22. August passierte nicht viel, außer dass die Corona-Fälle in Auckland wie zu erwarten stiegen. In der Woche zuvor hatte Premierministerin Jacinda Ardern erstmals nach 18 Monaten rasant einen landesweiten Lockdown verhängt, da der erste Delta-Fall im Lande entdeckt worden war – und etliche vermutlich noch unentdeckt. Covid19 war zurück, der Dornröschenschlaf vorbei und der Drill allseits bekannt und bewährt: strikte sofortige Maßnahmen, um die Ausbreitung zu begrenzen und mehr Bürger zu impfen. Ein Wettlauf gegen die Zeit.

Als mich an jenem Sonntagabend eine Redakteurin der „taz“ aus Berlin anrief, dachte ich zuerst, sie hätte sich mit der Nummer geirrt oder ich als Südsee-Korrespondentin irgendwo eine Katastrophe verpasst. Denn sie bat mich, auf die Schnelle einen Kommentar über die große Nachricht des Tages aus meinem Gebiet zu schreiben. Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Dann sah ich die dutzend Schlagzeilen im Netz, von Tageszeitungen über „Stern“ bis Deutsche Welle: „Neuseeland scheitert mit Null-COVID-Strategie“. Das habe die Regierung eingestanden.

Überdrehte Agenturmeldung

Spätestens jetzt dachte ich, ich säße im falschen Land. Da, wo ich seit 18 Jahren lebe, hatte niemand Offizielles von „Scheitern“ gesprochen. Chris Hipkins, der zuständige Minister für Covid-Angelegenheiten, sagte an jenem Sonntag, dass die Delta-Variante „große Fragen“ aufwerfe, da die Umstände sich seit dem ersten Lockdown im März 2020 verändert hätten. Gemeint war unter anderem der Druck, unter dem Kontakt-Verfolgung und Impfungen vorangehen müssen, damit mittelfristig die Grenzen geöffnet werden können, sobald Herdenimmunität erreicht ist. Daraus wurde bei AFP das Eingeständnis eines Versagens.

Während diese falsche Agenturmeldung in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbreitet wurde, betonte Ardern in Wellington, dass ihre Eliminierungsstrategie der richtige Weg sei. Ich hakte bei AFP-Büroleiter Neil Sands in Wellington nach. Da er kein Deutsch spricht, wusste er nicht, durch welche Mutation sein ursprünglicher Bericht in meiner alten Heimat gegangen ist. Die Übersetzung des Originals fand er „overcooked“, zu hochgekocht. Seine Agentur schickte daraufhin eine korrigierte Version über den Ticker mit dem Hinweis: „Ein ‚Eingeständnis des Scheiterns‘ ist durch die Zitate des zuständigen Ministers nicht belegt.“

Doch der Schaden war längst passiert. Die irreführenden Schlagzeilen wurden nicht mehr geändert, sondern mündeten in weitere Verdrehungen: Neuseeland und Australien stünden, so der „Focus“, „vor den Scherben des No-Covid-Plans“.

Dass in Sydney jedoch völlig andere Zustände herrschen als in Auckland – sowohl was polizeiliche Maßnahmen, Proteste, Quarantäne-Einrichtungen wie Inzidenz angeht – und Neuseeland und Australien genauso wenig in einen Topf geworfen werden können wie Dänemark und Schweden, ist vielen Meinungsköchen entweder egal oder nicht bekannt. Jan Fleischhauer ließ sich im „Focus“ aus: „Seien wir in jedem Fall froh, dass wir dem Rat der NoCovid-Fans unter den Virologen nicht in allem gefolgt sind.“

Nachbarsprechverbot

Fleischhauers einziger Beleg aus Neuseeland für die Untermauerung seiner steilen These war die angeblich unerhörte Unmenschlichkeit der Regierungschefin. Jacinda Ardern hatte in einer ihrer täglichen Erklärungen der Lockdown-Regeln gesagt: „Don’t talk to your neighbours.“ In Neuseeland war der Zusammenhang klar, dass man sich im Level 4 nicht in umliegende Häuser begibt. Es gab keinen Aufschrei und war nicht als Unterbindung jeder Kontaktaufnahme gemeint. Die Nachbarschaftshilfe nahm unter den allgemein solidarischen Neuseeländern nicht ab, sondern zu.

VERLIERER / Wie absurd die „No-Covid-Strategie“ ist, zeigt Neuseeland. Nach einem (!) Corona-Fall hat Premierministerin Jacinta Ardern (41) einen Lockdown verhängt und mahnt in einer TV-Ansprache: „Sprechen Sie nicht mit Ihren Nachbarn!“ Inzwischen gibt es 10 Fälle. Bei 5 Mio. Einwohnern. BILD meint: Insel des Irrsinns!
Ausriss: „Bild“

Das Nachbarn-Zitat wurde laut Barbara Barkhausen, die ein Journalistenbüro in Sydney hat, auch als Überschrift über einen Text vor ihr in der „Welt“ gesetzt, obwohl es in ihrem Originalmanuskript nicht vorkam. Bei „Bild“ wurde Ardern mit dem Ausspruch gar zum „Verlierer des Tages“ – falsch geschrieben als „Jacinta“ auf der „Insel des Irrsinns“ (Neuseeland besteht aus mehreren Inseln). Die „Weltwoche“ phantasierte sich währenddessen zurecht, Neuseeland sei eine „Huxleysche Dystopie“ geworden.

Deutschsprachige in Neuseeland sowie Kiwis in Deutschland konnten darüber noch lachen. In der Woche zuvor hatten sich bereits englische Medien darüber lustig gemacht, dass der Fünf-Millionen-Staat wegen „eines einzigen positiven Covid-Falls“ das ganze Land auf Stillstand fahre. Ignoriert wurde, dass der eine Fall logischerweise bereits für etliche mehr stand, die nur noch nicht erfasst waren.

Hinter der Häme könnte man Neid vermuten. Dass ich im tiefen Süden seit über einem Jahr ein Corona-freies Paradies mit Hochzeiten, Musikfestivals und Skiurlaub genießen durfte, liegt allein daran, dass so frühzeitig auf die ersten Community-Übertragungen reagiert wurde. Das wollen viele Lockdown-Ermüdete und Politikfrustrierte in Europa nicht hören.

Infizierte in Lager

Als sich als nächstes Philosoph und Buchautor Jörg Phil Friedrich in der „Welt“ an einem Zerrbild der Zustände down under abarbeitete, ging das vielen Neuseeland-Kennern und deutschen Immigranten jedoch zu weit. „Jetzt zeigt sich das wahre Gesicht von NoCovid“ heißt es über seinem Text, der mit den Sätzen beginnt: „Infizierte werden in Lager gesperrt und wie Terroristen gejagt, wenn sie Quarantäne-Regeln brechen. Politiker raten Bürgern, nicht mit den Nachbarn zu sprechen. Australien und Neuseeland zeigen, wohin die No-Covid-Strategie führt.“

Hinter der Paywall bezieht der Kolumnist sich fast ausschließlich auf drastische Beispiele aus Australien. Als Beweis für Neuseelands vermeintliche Covid-Diktatur muss wieder das böse Ardern-Zitat über die Nachbarn herhalten. Auch Chris Hipkins, fälschlicherweise als „Gesundheitsminister“ tituliert, taucht mit seinen „großen Fragen“ aus dem AFP-Text auf. Da jedoch nur ein Bruchteil von Online-Lesern Friedrichs ganzen Text sehen, sind Überschrift und Einstieg eine reißerische Verquickung und Verzerrung.

Das Wort „camps“ (Lager) für Quarantänehotels hat bereits letztes Jahr die amerikanische Demagogin Laura Ingraham auf Fox News benutzt – und Neuseelands kürzlich verhafteter Verschwörungstheoretiker Billy Te Kahika Jr, der für die angeblichen „politischen Gefangenen“ in diesen Einrichtungen protestierte. Vor allem im deutschen Kontext assoziiert man mit „Lager“ Schlimmstes. Es ist Wasser auf die Mühlen von Querdenkern und Impfgegnern, die sich gerne mit Verfolgten des Naziregimes vergleichen.

Faschismus-Fernwittern

Dass ich mich mit verniedlichenden Klischees über meine bei Hobbits und Touristen beliebte Wahlheimat herumschlage, gehört zum Nischen-Geschäft in einem kleinen Land, das viele gerne aus der Ferne verklären. Und dass sich nach all der internationalen Anbetung unserer „Heiligen Jacinda“ das Blatt irgendwann wendet und keiner der Covid-zermürbten Bundesbürger mehr hören will, wie toll das „Team der fünf Millionen“ die Krise gewuppt habt, gehört ebenfalls zum Gesetz des Marktes.

Aber wenn die alarmistischen Rufer vom rechtsliberalen Rand, die jetzt aus 18.000 Kilometer Entfernung den Südpazifik sezieren und Faschismus wittern, nicht korrekt informiert sind, sollte man vielleicht lieber Menschen vor Ort zu Wort kommen lassen. Der im Herbst vergangenen Jahres nach Neuseeland ausgewanderte André Klengel schrieb der „Welt“ in einem Leserbrief:

„Dass die Null-Covid Strategie nicht ewig durchzuführen ist, ist auch hier jedem bewusst und wird spätestens mit der kompletten Durchimpfung der Bevölkerung ein Ende finden. Deswegen vom ‚wahren Gesicht der Null Covid Strategie‘ zu sprechen und die Tatsachen außer Acht lassen, halte ich für völlig falsch, genau wie 95% der neuseeländischen Bevölkerung.“

Die Zahl der positiven Covid-Fälle in Neuseeland sind nach drei Wochen bereits stark rückläufig. Die schlimmste Gefahr scheint gebannt. Seit Mittwoch dieser Woche ist der Lockdown im gesamten Land bis auf Auckland weitgehend aufgehoben, es gibt nur noch wenige Auflagen. Der jüngste Anti-Lockdown-Protest bestand aus einer einzigen Person.

5 Kommentare

  1. Die ursprüngliche falsche Übersetzung passte einfach zu gut in die Springer-Kampagne, um sie später wieder zurückzunehmen.

    Richtigstellungen finden fast immer weniger Leser als der ursprüngliche (angeblich) Skandal, vor allem natürlich, wenn sie gar nicht vorkommen.

  2. Danke für die Aufklärung. Die hier näher zitierten Medien kann man ja eh in den Skat drücken, aber auch die seriösen Medien haben das viel zu wenig gerade gerückt. Jetzt sind immerhin wir Leser hier in der Lage, das fundiert gerade zu rücken, wenn es zur Sprache kommt.

  3. Schöner Text. Manchmal wäre ich auch gerne „rechtsliberal“ und würde mein Geld dadurch verdienen mit meinem Unverständnis elementarer Zusammenhänge zu kokettieren. Lol, 1 Fall, dann 10 und die machen direkt was und kaum jemand ist gestorben, was für Idioten.

  4. Oh nein, konsequente Quarantäne funktioniert also? Wer hätte denn das vermutet. Ich bin schockiert. Wenn man das nur vorher gewusst hätte.
    Oh nein, die Springerpresse schreibt nur das auf, was in ihre Agenda passt. Auch hier, absoluter Schock, konnte keiner mit rechnen.
    /s (obviously)

    Gibt’s eigentlich irgendwo ne Rechnung, wie viel Geld der Kapitalismus (national / international) mit der Rumeier-Strategie verloren hat vs. wie viel er bei konsequentem No-Covid verloren hätte?
    Oder würde das zu sehr wehtun?

    Auf Meta-Ebene: Systemkritik sollte kein Monopol rechter Verschwörungshanserl und ihrer Zeitungen werden. Ich neige auch dazu, aber jetzt dem Staat zur Seite zu springen, nur weil auch eine rechte Echokammer (unsachliche) Kritik an ihm übt, ist m. E. falsch.
    Das dumme Gelaber von Querlenkern und Konsorten darf die sachliche Kritik nicht verstummen lassen. Ob mehr Populismus oder mehr Sachlichkeit das richtige Mittel ist, weiß ich nicht.

  5. Presserat do you thing?
    Finde so etwas journalistisch-ethisch sehr fragwürdig. Fasse Balance und aus dem Kontext gerissene Aussagen und dazu völlig überzogene und nicht belegbare Faschismusvergleiche das ist das Game seit 18 Monaten, aber vielleicht hat es sich sich einfach nur zugespitzt im Angesicht einer existentiellen Krise.

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