Internetgedöns

Was wichtig ist

pathosspritze

Ich habe das letzte Wochenende mit meiner Familie verbracht. Weit weg vom LTE-Internetland. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. KEIN NETZ, sagte mir mein Handy, als wir bei strömendem Regen durch den Wald liefen. Und irgendwie war das auch gut so.

So blieb mehr Zeit für Gespräche. Und während sich im Moment bei mir sonst viel um den Webvideopreis dreht, deren Nominierte morgen bekannt gegeben werden, ging es am Familienesstisch um Themen jenseits des Webvideotellerrandes.

Meine Eltern sind beide Ärzte. Und beide bei Ärzte ohne Grenzen. Über Weihnachten war meine Mama in Calais. Davor in Syrien. Während andere ihren Sommerurlaub planen, plant mein Papa gerade seinen nächsten Einsatz. Das ist schon seit Jahren so. Eigentlich hatte ich wirklich genügend Zeit, mich daran zu gewöhnen. Aber immer wieder, wenn wir zusammensitzen und ich mir ihre Geschichten anhöre, frage ich mich, was ich eigentlich hier tue.

Während Menschen wie meine Eltern, Krankenschwestern und Logistiker da draußen Leben retten, frage ich mich, ob ich auf den zickig-hohlen Twitter-Diss einer Youtuberin antworten soll. Und klar, ist das überspitzt. Aber es beschreibt schon ganz gut das Gefühl, das mich immer wieder aufs Neue beschleicht, wenn ich mir die Geschichten meiner Eltern anhöre.

Aber was soll ich machen? Ich bin keine Ärztin. Keine Krankenschwester. Und bisher wurde auch noch kein Mensch gesund durch Gesang. Oder Geschichten einer kleinen Marie. Zeichnungen haben noch niemanden vor Krankheiten geschützt. Und YouTube-Videos ganz bestimmt nicht. Und so saß ich letzte Woche bei meinen Eltern. Und fühlte mich semi-geil.

Bis meine Mama mir erzählte, dass es einen Tag gab, während ihres letzten Einsatzes, an dem die Stimmung auf dem Tiefpunkt war. An dem alle durchhingen und Müdigkeit und Frust in sämtlichen Knochen steckte. Da hat sie meine Musik angemacht. Und anscheinend wirkte die wie Medizin.

Und auch mein Papa erzählte. Von einem Einsatz im Kongo. Eine Kollegin von ihm war an Malaria erkrankt. Hohes Fieber. Panische Albträume. In einer Nacht war es so schlimm, dass ihr Kopf fast explodierte, weil sie wie im Wahn nur noch Zahlenkolonnen sah. Sie waren in einem Haus mit Internet und so zeigte mein Papa ihr ein Video, in dem ich erzähle, wie mein fast blinder Opa Fahrradfahren lernte. Danach folgten weitere meiner Draw-My-Memories-Videos. Und es wirkte. Meine Geschichten vertrieben die Zahlen aus ihrem Kopf.

Ich schreib dies nicht um zu zeigen, wie toll meine Eltern sind. Oder wie toll meine Musik und meine Geschichten sind. Sondern weil ich weiß, dass die meisten Menschen da draußen eben keine Ärzte, Krankenschwestern oder Logistiker sind. Und dass sich viele Menschen fragen, was sie eigentlich tun können.

Das habe ich auch meine Eltern gefragt. Und auch, wie sie dazu stehen, dass Menschen bloß ihre Facebook-Profilbilder ändern oder Hashtags auf Twitter raushauen, während Kollegen meiner Eltern im Einsatz bei Bombenangriffen sterben. Und ich war wirklich überrascht über die Antwort meiner Mama.

Zum einen, weil sie erzählte, dass letzteres leider immer häufiger passiert. Und zwar ganz bewusst. In Syrien zum Beispiel werden Ärzte, Praxen und Krankenhäuser ganz bewusst angegriffen, um Menschen zur Flucht zu treiben. Leuchtet ein: Wenn der letzte Kinderarzt getötet oder vertrieben wird, fliehen auch die Familien, die bisher blieben. Wer möchte seine Kinder in einem medizinischen Notfall unversorgt wissen? Kollegen meiner Mutter berichten von immer widerlicheren Angriffen. Ärzte bauen ihre Praxen heimlich in Kellern auf, ziehen immer wieder um, so dass sie und ihre Patienten nicht gefunden und angegriffen werden können. Um sie aus ihren Verstecken zu locken, werden Bomben auf öffentlichen Plätzen gezündet. Dann wird gewartet. Wenn nach einer halben Stunde Ärzte und Helfer eingetroffen sind, um die Verletzten zu verarzten, startet der zweite Angriff.

Und zum anderen, weil sie – anders als ich erwartete – jedes geänderte Profilbild, jeden Tweet und jeden Post feiert. Es ist ein wenig wie meine Geschichten. Und meine Musik. Es hält jenen, die da draußen jeden Tag im Einsatz sind, den Rücken frei. Macht ihnen Mut. Und noch mehr: Es schafft Aufmerksamkeit. Gerade zum Beispiel läuft eine Kampagne von Ärzte ohne Grenzen unter dem Hashtag: #NotATarget.

Es ist der öffentliche Druck. Das Bewusstsein in der Zivilgesellschaft. Was einen Unterschied macht, sagt meine Mama. Und das nicht nur für jeden, der gerade in einem Einsatz ist. Oder auch sonst jeden Arzt und jede Ärztin. Das Wissen, dass es anderen Menschen nicht gleichgültig ist. Dass sie hinsehen. Dass sie sich solidarisieren.

Aber es ist noch viel mehr als das. Je stärker der Druck, desto höher die Chance, dass sich auch wirklich Dinge ändern. Und wenn auch nur ein geändertes Facebook-Bild, ein Post oder ein Tweet weitere Menschen erreicht und dazu bringt, sich für eine Sekunde nicht mit zickigem Youtube-Quatsch, sondern Kampagnen wie #NotATarget auseinanderzusetzen. Dann hat sie wohl recht. Meine Mama.

Und so habe ich beschlossen, heute eben mal nicht über irgendeinen YouTube-Quatsch zu schreiben. Und ja. Ich bin ein Mensch voller Pathos. Und dieser Beitrag auch. Aber scheiß drauf. Wenn sich auch nur ein Mensch nach dem Lesen heute nicht mit irgendeinem Quatsch beschäftigt. Oder sich ein bisschen weniger doof fühlt, weil er wie ich keine Ärztin ist. Und eben trotzdem einen Unterschied machen kann. Dann hat es sich gelohnt.

Ein Kommentar

  1. Etwas spät, aber danke für diesen Beitrag.
    Zum einen, weil er aufzeigt, dass eben auch die, die aus irgendeinem Grund nicht mehr machen *können* als kurz etwas weiterzuleiten, oder die eben nicht mehr Zeit investieren möchten, als es braucht, ein neues Profilbild hochzuladen, immerhin noch mehr tun als jene, die nur zynisch lächelnd vor ihrem Monitor hocken und gar nichts tun, weil „es ja eh nichts bringt“.
    Ja, es gibt den Effekt, dass Leute zu Unrecht meinen, mit dem hashtag ihren Teil getan zu haben. Aber immerhin haben sie mehr als nichts getan.
    Und es ist schön, mal von denen, die wirklich draußen an der Front sind, zu hören, dass auch solche Kleinigkeiten helfen können.

    Des Weiteren für den Hinweis auf den Nutzen auch kleinster Beiträge (womit die Musik und die Videos nicht geschmälert werden sollen): also können vielleicht auch wir, die eben keine entsprechende Ausbildung vorweisen können oder z.B. aus gesundheitlichen Gründen niemals direkt vor Ort helfen könnten, aus unseren kleinen Talenten einen Nutzen für andere ziehen. Und wenn es auch nur ein momentaner Stimmungsaufheller ist.

    Und ein ganz besonders fettes Danke an deine Eltern.
    Sie helfen nicht nur den Betroffenen vor Ort, das natürlich hauptsächlich.
    Sie halten aber auch – nu darf ich mal pathetisch werden – das Licht der Menschlichkeit hoch, des Humanismus der nicht nur an sich selbst denkt. Sie beweisen mit ihrem Einsatz, dass wir zu Besserem in der Lage sind. Gerade Ärzte ohne Grenzen sind großartige Vorbilder.

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