Über Druck

Rütlischwur vor dem Reichstag

Die Schweizer Boulevardzeitung „Blick” hat neulich einen „Integrationsvertrag“ veröffentlicht, den alle Migranten unterschreiben sollten – als Zeichen ihres Integrationswillens. Die Unterzeichnenden versichern damit, sich „so rasch wie möglich zu integrieren“ und „Werte, Pflichten und Normen zu respektieren“.

Es befinden sich darin allerdings einige Punkte, die ich bei näherer Betrachtung nicht haltbar finde. So heißt es:

„Mann und Frau sind gleichberechtigt.“

Hier sollte man den Migranten in einem kleinen Exkurs zur Landesgeschichte zumindest erzählen, dass die Schweiz eines der letzten europäischen Länder war, das Frauen dieselben Rechte wie Männern zugestand. Im Kanton Appenzell Innerrhoden dürfen Frauen sogar erst seit November 1990 wählen. So beschlossen es damals die Männer.

„Alle dürfen über alles reden. Die Schweiz kennt kein Tabu in Worten und Gedanken: Jeder darf über alles mitreden.“

Obacht, Migranten! Es gibt wenig Länder, in denen es so verpönt ist, sich zu streiten und man so vorsichtig sein muss, Kritik zu äußern.

„Nur wer Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch in Wort und Schrift beherrscht, ist in der Lage, am täglichen Leben teilzunehmen.“

Es gibt allerdings etliche Schweizer, die Deutsch nicht wirklich beherrschen, sondern Schwyzerdütsch sprechen.

„Man zeigt sein Gesicht.“

Das gilt nicht für Steuerbetrüger und alle, die ihr Geld auf Geheimkonten verstecken.

„Man reicht einander bei der Begrüssung und zum Abschied die Hand.“

Viele Schweizer wollen einen aber lieber auf die Wangen küssen – und zwar nicht zweimal, sondern dreimal – wie bei den Persern.

„Man hält Ordnung, Ehrlichkeit und Anstand hoch.“

Es sei denn, man ist Banker, lässt in Afrika Konfliktmetalle schürfen, in Südamerika Regenwälder abholzen oder in Entwicklungsländern Milchpulver und Brunnenwasser teuer verkaufen.

An mehreren Stellen widerspricht sich der „Blick“-Integrationsvertrag regelrecht:

„Jeder darf nach den eigenen Vorstellungen leben, sofern keinem anderen ein Nachteil entsteht.“

Das stimmt ja gerade nicht, denn einige Einwanderer dürften definitiv andere Vorstellungen vom Leben haben als die „Blick“-Redaktion. Vielleicht wollen sie keine Hände schütteln. Vielleicht haben auch manche Traumata, die ihnen das Rätoromanischlernen erst einmal erschweren.

„Niemand wird wegen Herkunft, sexueller Orientierung, Hautfarbe, politischer Gesinnung oder Religion diskriminiert“.

Wenn es wirklich so wäre, würde es diesen Vertrag gar nicht geben. Außerdem dürften die meisten Deutschen in Zürich wissen, wie es ist, wenn man wegen seiner Herkunft diskriminiert wird.

Ok, ist halt Boulevard, könnte man sagen. Allerdings findet sich der bornierte und unredliche Ton dieser Leitkultur-Aktion nun in der Juniausgabe von „Cicero“ wieder, wo der Kolumnist und Schweizer Frank A. Meyer in seinem Loblied auf den „Integrationsvertrag“ gleich mehrfach gegen dessen Paragraphen verstößt. Es beginnt damit, dass er die Aktion des „Blick“ zur journalistische Glanztat verklärt, ohne zu erwähnen, dass er selbst beim Ringier-Verlag angestellt ist, der den „Blick“ herausgibt. Das verstößt zumindest gegen das Gebot der Offenheit und Ehrlichkeit.

„Cicero“ gehörte auch mal zum Ringier-Verlag, nun wird es von Chefredakteur Christoph Schwennicke und seinem Stellvertreter Alexander Marguier herausgegeben. Erstaunlicherweise haben die beiden Meyer, der für Michael Ringier den schreibenden Schmuck­eremiten gibt, als Kolumnisten behalten. Maybe part of the deal.

Und so darf Meyer, der sehr gern in Berlin lebt, weiterhin die Schweiz als Vorbild für Deutschland loben und es für seine Flüchtlingspolitik tadeln. Meyer, der sehr gern in Berlin lebt, schreibt im Juli-„Cicero“, dass in Deutschland „eine migrationsselige Elite“ dafür sorge, dass sich hier „die wilden Kinder Arabiens und Afrikas nach den Maßgaben ihrer Traditionen (…) tummeln dürfen“.

Meyer selbst ist ist sowohl Elite, als auch migrationswillig. Schließlich zog er schon vor vielen Jahren ins feine Berlin-Dahlem. Damals hatte er allerdings ziemliche Anpassungsschwierigkeiten. So bestellte er in einer Altberliner Kneipe in einem schwer verständlichem Deutsch „Einen Coup Champagner!!“, woraufhin ihm die Kellnerin beschied, dass er wohl ein Glas Rotkäppchen meine.

Seit diesen Tagen kolumnierte er in einem schönen Villenambiente und weit weg von den wilden Kindern Arabiens und Afrikas trefflich vor sich hin, oft bis zum Meyerschen Höhepunkt, bei dem – wie in der neuesten Kolumne – Deutschland insgesamt der Status „eines freisinnigen Staatswesens“ aberkannt wird, „das nie in einem revolutionären Akt“ erlangt wurde. Zur Zeit der Wende war Meyer übrigens Lehrbeauftragter in Sankt Gallen.

Seine Ausführungen beschließt er jedenfalls mit düstersten Analogien: „Deutschland ist eine verspätete Nation, der Islam eine verspätete Religion – fatale ferne Verwandtschaft“.

Diese Imagination der totalen Aufgabe nationaler Eigenheiten unter dem Eindruck muslimischer Zuwanderung ist auch die Triebfeder von „Cicero“, das seine Predigten von der Leitkultur immer so schön mit naiv-kindlichen, bunten Illustrationen verbrämt. Dafür malen die Autoren alle ganz in schwarz. So ist im neuen Heft nicht mal Meyer der unterkomplexeste Autor, sondern Alexander Gauland von der AfD. Der schreibt in einem Gastbeitrag über das Erbe der 68er, dass es eine kulturelle Revolution gegeben habe, die zu „jenen Missgeburten aus ‚repressiver Toleranz‘, Extremfeminismus, ökologischen Übertreibungen und dem Verlust des inneren Gleichgewichts unserer Gesellschaft geführt haben“.

Oha. Wenn es nicht bald auf der Wiese vor dem Reichstag zu einem Rütlischwur gegen die tyrannische Vögtin im Bundeskanzleramt kommt, ist es wohl leider zu spät.

9 Kommentare

  1. Das ist SO kleinkariert. Und so kurzsichtig: Norm #1 z.B. widerspricht Recht #4; es ist nicht einsichtig, inwieweit ich einem anderen einen Nachteil zufüge, indem ich ihm nicht die Hand schüttele.

  2. „Mann und Frau sind gleichberechtigt.“

    Der landeskundliche Exkurs sollte vielleicht auch darauf hinweisen, dass Männer militärdienstpflichtig sind (zahlungspflichtig, falls nicht zum Dienst in der Lage), Frauen aber nicht. Im 21. Jahrhundert, in Europa. Danke für nichts, Schweiz.

  3. @ Murmansk Grischun: Abgesehen davon, daß das natürlich eine Frechheit ist, war es in Deutschland ja aber bis vor Kurzem – also vor der Abschaffung des Pflichtwehrdienstes – nicht anders (also mit dem Zusatz, daß man sich nicht direkt freikaufen konnte, sondern den Umweg über Zivildienst/“schlechtes“ ärztliches Attest gehen musste).

  4. Luschtigi und gueti Gschicht. Merci!
    Aber säget sie mol: warum sött Schyzerdütsch öbbeneinisch kei Dütsch si? S’git au uff dr andere Site vom Rhi, im große Kanton, gnueg Lüt, wo andersch schriebet wie sie schwätzet!
    Und die Sach mit de Bisous isch sowieso öbbis ganz Welschs: Do sins drü und döt ebe nu zwo.

  5. Es stimmt zwar mit dem Wahlrecht für die Frauen, aber vielleicht sollte man auch hinzufügen, dass die Schweiz das einzige europäische Land ist, in dem nicht das Parlament sondern die Männer als damalige Wahlberechtigte den Frauen das Wahlrecht gegeben haben. In meinem Heimatkanton Genf konnte ich sogar auf kantonaler Ebene seit 1960 wählen, also 30 Jahre vor Appenzell Innerrohden.
    Was die Beherrschung der deutschen Sprache bei manchen „Biodeutschen“ betrifft, stelle ich mir übrigens auch manchmal Fragen.
    Und der dreifache Kuss auf die Wangen wird auch nicht von „vielen Schweizern“ bei jedem und jeder praktiziert, der Handschlag schon.

  6. Definitionen von Leitkultur sind ein Instrument der Aus- und Abgrenzung, und zwar ein ziemlich hilfloser. Sie haben eine Wirksamkeit von den 10 Geboten und dienen keiner Integration von Migranten in einer Gesellschaft.
    Wird so etwas gar als Vertrag herangezogen, den Migranten unterschreiben sollen, schafft man die Grundlage für Diskriminierung. Diejenigen, die sich einer sogenannten Überfremdung gegenüber sehen, nutzen es um mit dem Finger auf die Migranten zu zeigen, die nach ihrer Lesart und Interpretation des sogenannten Vertragstextes dagegen verstoßen. Der Vertrag wird zur Grundlage einer Diskriminierungskultur.
    Etabliert sie sich in der Gesellschaft kann sie sich auch gegen die wenden, die sie einst geschaffen haben. Nämlich dann, wenn sich in der Gesellschaft ein anderer kultureller Konsens bildet.
    Kultur kann man nicht erlenen – man muss sie erleben.
    Daher ist die Leitkulturdiskussion eine ziemlich dämliche.

  7. Zwar stimme ich dem Tenor dieses Artikels zu, bin aber über folgende Aussage sehr überrascht:
    „Es gibt allerdings etliche Schweizer, die Deutsch nicht wirklich beherrschen, sondern Schwyzerdütsch sprechen.“
    Dieser Auffassung nach gibt es also ein „richtiges“ Deutsch — in Deutschland oft als Hochdeutsch bezeichnet — und dann minderwertige Formen des Deutschen, zu denen anscheinend das Schwyzertüütsch zählt, vermutlich auch das Schwäbische und Hessische, und wie ist es mit Kölsch? Die beherrschen Deutsch also „nicht wirklich“?
    In der Schweiz wie auch in Deutschland mag vieles falsch laufen, aber sich über die Sprache (Aussprache, Lexik, Grammatik, Rechtschreibung… völlig egal, um welchen Aspekt es sich dreht) Andersdenkender zu mokieren, ist als Argument schlicht unbrauchbar.

  8. @8: wer mokiert sich denn? Ich wüsste nicht, dass es Menschen gibt, die schwäbisch oder hessisch sprechen, nicht aber gleichzeitig das offizielle Schriftdeutsch sprechen und verstehen können. Beim Schwyzerdütsch scheint es diese Menschen aber zu geben. Das hat nichts mit minderwertig oder ähnlichem zu tun, sondern ist schlicht und ergreifend eine Feststellung.

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